X

25.06.2014 Tallinn – Raudsilla (Fred)

Gegen 6:00 Uhr wache ich auf, weil ich in der Nähe Stimmen höre. Ich setze die Brille auf und schiebe unseren provisorischen (Handtuch-) Vorhang etwas zur Seite. Es sind offenbar Beschäftigte, die gerade zu ihrem Arbeitsplatz gehen. Uns nehmen sie nicht wahr. Ich ziehe mir etwas an und steige aus dem Bett. Erstmal die Gegend erkunden gestern war es viel zu dunkel, um das Gelände so richtg zu inspizieren.
Wir stehen auf einem großen unbefestigten Platz, neben einer Baum- und Buschgruppe, die sich auf deren Mitte befindet. Nach der einen Seite Ödland bis zu einer großen Halle, die eine Werft zu sein scheint. Auf der anderen Seite neben uns eine Einfahrt mit einer großen Tafel. Es ist ein Museum – einst wohl ein Flugbootmuseum, das mittlerweile erweitert wurde und seit 2 Jahren hier geöffnet hat. Das kann ich an einer Tafel am Eingang lesen. Wenn ich von hier zum Auto schaue, dann ist dieses überhaupt nicht auszumachen – perfekt getarnt hinter den Büschen. Vor einem alten Gebäude stehen Militärfahrzeuge, es gibt einen Spielplatz, der aus einem alten Segelboot besteht, in das zwei Rutschen und ein Klettergerüst integriert wurden. Die Militärboote stehen an Land und gehören ebenso zu dem Museum. Jetzt wird mir auch klar, dass die alten Schornsteine, die ich gestern Nacht bei einem kurzen Rundgang gesehen habe, zu einem Schiff gehören, dass nicht mehr im Betrieb ist.

Ich hole den Benzinkocher raus und mache erstmal einen Tee. Elisabeth schnippelt Tomaten, Gurken und Ziegenkäse. Zusammen mit Brot und Oliven ist das unser Frühstück. Während wir frühstücken, kommen immer wieder Leute und verschwinden auf dem riesigen Museumsgelände, von uns nehmen sie kaum Notiz.

Dann packen wir zusammen und machen uns auf den Weg in die Stadt. Wir haben die Nachtfähre genommen, um Zeit zu gewinnen, die wir für eine Stadtbesichtigung nutzen wollen.
Bei Tag navigiert es sich einfacher. Alsbald fahren wir an der Tankstelle vorbei und finden auch einen Wegweiser zum Zentrum. Dem folgen wir, bis wir an einer Kreuzung einen Parkplatz sehen. Bewacht, 6 Euro Tagespauschale. Da der Reiseführer von hohen Kosten innerhalb der Stadtmauern spricht, entscheiden wir uns dazu, das Auto hier stehen zu lassen. Ein anderes deutsches Auto steht ebenfalls am Rand des Platzes, hier wird offensichtlich noch geschlummert.

Alleine die Stadtmauer beeindruckt schon mächtig. Zumindest mich. Elisabeth sieht derweil ein Polizeiauto mit eingeschaltetem Blaulicht, der direkt vor der Mauer steht. Da ist ja noch die Aufgabe, einen Polizisten auf den Arm zu nehmen. Elisabeth spricht ihn an und diskutiert mit ihm, erst scheint es ihm gut damit zu gehen, von einer Frau angesprochen zu werden. Als er aber begreift, worum es geht, wiegelt er ab. Er versteht zu wenig Englisch, um zu kapieren, worum es geht, meint er. Elisabeth bedankt sich und wir wenden uns wieder der Stadt zu.
Diese ist auf jeden Fall einen Besuch wert. Malerische Straßen und Gassen, eindrucksvolle Hinterhöfe dort, wo man einen Blick durch ein geöffnetes Tor erhaschen kann. Über das ‚Lange Bein‘ geht es bergan hinauf zum Dom. Dieser will irgendwie nicht so recht in eine Mittelalter-Stadt passen. Viel zu überladen im ansonsten schlicht gehaltenen Umfeld. An der oberen Festungsmauer finden wir immer wieder weite Ausblicke auf die Stadt, die Küste und das Land um Tallinn. Und wir begegnen auch dem Team Lucky99, die fototechnisch mit schwerem Gerät unterwegs sind. Das große Stativ und den Nodaladapter verwenden sie, um von der Festungsmauer aus Panoramen zu fotografieren. Noch einige Male begegnen wir dem Polizisten, Elisabeth lacht ihm jedesmal freundlich zu, seine Meinung ändert er dennoch nicht.
Lange halten wir uns im oberen Bereich der Stadt auf, erkunden Gässchen und Winkel, bevor wir über das ‚kurze Bein‘ den Weg in die untere Stadt suchen. Zwischendurch verlockt uns ein Schild zu einem Cafe. Steil geht es eine Treppe hinauf zu einem Wehrgang. Und eben auf diesem Wehrgang stehen ein paar Tische und Stühle. Die Aussicht ist grandios, der Kuchen schmeckt lecker. Was sie dafür bezahlt hat, will Elisabeth aber nicht verraten. Egal, nach den letzten Tagen, wo wir sparsam unterwegs waren, darf es auch mal feudal sein.

Der untere Teil der Stadt ist nicht weniger sehenswert. Wir halten uns an die beiden spitzen Türme von Rathaus und Kirche, um ins Zentrum zu gelangen. Hier steppt der Bär. Unzählige Touristengruppen werden von Regenschirm-in-die Höhe-haltenden Reiseführern durch die Gassen gelotst. Nach den letzten Tagen, wo wir die Stille und Einsamkeit genossen haben, meist nur Kontakt zu einzelnen Einhemischen hatten, nervt mich der Auflauf hier nach kurzer Zeit. Es ist schwer, diesen Menschenmassen aus dem Weg zu gehen. Wir gehen wenigstens gegen den Strom, so finde ich ab und an mal eine Lücke, um interessantes ohne Menschentrauben davor zu fotografieren. Während Elisabeth nach einer neuen Hose schaut, gehe ich in ein Wachsfigurenkabinett um eine weitere Aufgabe zu lösen: Mache ein Bild einer bekannten Person, frei nach Madame Tussaud. Wir wollten das ja schon mal mit einem Typen machen, der dem Prinz von Anhalt täuschend ähnlich sah, der hat sich aber nicht davon überzeugen lassen. Im Wachsfigurenkabinett gibt es nichts, was mich halbwegs anspricht, im Prinzip bleibt es dann bei Captain Sparrow, der als Anreiz vor der Tür steht.

Auf dem Weg zum Auto gehen wir nochmal an der Stadtmauer entlang und finden – etwas versteckt – ein kleinens Restaurant. Wir entscheiden uns, hier zu Mittag zu essen. Wir bestellen landestypische Gerichte – Fisch und Fleisch – und tauschen zwischendurch die Teller. Die Tür zur Gaststätte ist versperrt, als ich zur Toilette will. Ich bekomme erklärt, dass ich erst durch den Torbogen wieder raus auf die Straße und dann links eine kleine Treppe hoch gehen muss. Als ich dort die Tür öffne, bin ich erst etwas verwirrt. Die Dame, die an einer Kasse sitzt, bestätigt mir aber, dass ich richtig bin. Es ist das Theater von Tallinn, das Lokal gehört da offensichtlich dazu. Vor dem Theater sind Platten in den Gehsteig eingelassen mit Theaterstücken und den Daten, wann sie hier gespielt wurden.

Zurück am Parkplatz haben sich noch andere Rallyefahrzeuge eingefunden. Der Bulli vom Team 123 steht direkt hinter uns. Wir verlassen den Platz und suchen den Weg nach Raudsilla – in der Karte ist das nicht eingezeichnet, anhand des Roadbooks wissen wir in etwa, wo es ist. Die 1 ist in unserer Karte als Autobahn eingezeichnet, gar nicht so einfach, die nicht zu treffen. Wir halten uns erstmal Richtung Maardu. Dort sehen wir wieder einmal eine Polizeistation. Schnell geparkt und mit Roadbook und Kamera dahin. Leider ist die Tür zur Wache zugesperrt, eine Tür nebenan geht es zu den hiesigen Politessen. Da sitzt eine Frau, die uns aber auch nicht weiterhelfen kann. Sie hat noch nichtmal eine Uniform an. Dann halt weiter zum heutigen Treffpunkt.
In Uusküla merken wir, dass wir zu weit sind. Wir drehen und halten mehrfach an, um zu fragen. Stück um Stück kommen wir so voran, auch wenn viele nicht verstehen, weshalb die 1 für uns tabu ist. Der entscheidende Hinweis heißt Rebala, ein winziges Dorf. Oft ist nichtmal ein Ortsschild aufgestellt. Hier diesmal schon, nun haben wir wieder eine Richtung. Über Ruu und Haavakannu gelangen wir nach Kuusalu, wo wir auf die 270 abbiegen. von da müssen wir in Pudisoo auf die 268 wechseln. Als wir in Uuri vorbeikommen merken wir, das wir zu weit sind und drehen. Ein weiteres Team kommt uns entgegen. Zurück zur nächsten Abbiegung, wo uns weitere Teams begegnen. Nachdem wir das nächste Dörflein durchquert haben, finden wir eine Abfahrt auf eine Schotterpiste, an der ein BSC-Aufkleber hängt. Ungefähr 2km folgen wir dem Weg, bis wir auf den Platz treffen. Viele Autos stehen schon da, wir werden freudig winkend begrüßt.

Erstmal das Auto vor das große Tipi stellen. Kristina Jäckel von den Autonomen Jugendwerkstätten Hamburg erklärt sich gerne bereit, das Foto von uns, unserem Auto und dem Tipi für die Tagesaufgabe zu machen.
Anschließend suchen wir uns einen Parkplatz, wo das Auto waagrecht steht und werden wenig später vom Organisationsteam begrüßt. Das Große Tipi besteht aus etlichen, mindesten 20m hohen Baumstämmen und beherbergt den zentralen Treffpunkt. In der Mitte eine riesige Feuerstelle, die unteren eineinhalb Meter der Außenwand ist verglast, so dass man einen Blich nach draußen hat.
Es gibt Folkloretänze vor dem Eingang. Dort steht auch ein Grill, auf dem bereits das Essen zubereitet wird. Im Tipi entsteht gerade ein Buffett.
Doch uns ist erstmal nach einen Dusche. Die gibt es auf dem Gelände aber nicht, dafür mehrere Saunen. Wir entern eine von denen und nutzen die Sauna und das warme Wasser mit dem Fluss nebenan, um uns den Schweiß aus den Poren zu schwitzen und ausgiebige Körperpflege zu betreiben.

Wie neugeboren fühlen wir uns und mischen uns unters Volk. Jetzt sind wir auch den Anderen zumutbar. Das Essen hat schon begonnen, wir reihen uns in die Schlange und suchen uns einen Platz an einem der zahlreichen Tische. In einer Hobbit-Gegend finden wir Platz bei den Herrn der Ringe – und auch wenn deren Teamname nichts mit der Geschichte von Tolkien zu tun hat, verstehen wir uns prächtig. Wieder einmal werden wir nach unserem Auto gefragt und das Foto vom Libero macht die Runde. Zum Nachtisch gibt es leckeren Kuchen und danach Musik. Elisabeth ist bald auf der Tanzfläche, ich bin zu müde dazu. Später hole ich die Kamera aus dem Auto und machen einen Rundgang durch das Areal. Weit komme ich aber nicht, schon wenig später werden ich zu einem Pavillon gebeten, wo mir ein Stuhl angeboten wird. Mehrere Teams sitzen hier eng zusammen und tauschen das Erlebte aus. So bekomme ich auch einen Einblick von den Teams, die durch Russland gefahren sind. Eines der beherrschenden Themen ist der Surströmmer. Schon erstaunlich, mit wieviel Kreativität die einzelnen Teams an dsie Lösung dieser Aufgabe gegangen sind.

Der neue Tag hat schon begonnen, als ich mich verabschiede und unser Auto aufsuche. Elisabeth schläft schon, als ich in unser Wikinger-Himmelbett krieche. Es dauert noch einen Weile, bis ich einschlafe – so viele tolle Eindrücke müssen erstmal verarbeitet werden.

Fred: